Exekutive

Veröffentlicht von Fraro am 08.06.2013


Es gab einmal eine Zeit, viele der Leser dieser kleinen Website kennen sie noch aus eigenem Erleben, da gab es in jedem Dorf eine Einrichtung, die im offiziellen Sprachgebrauch "einmännige Polizeistation" hieß. Der Untertan kannte den Herrn Polizisten nur unter der Bezeichnung "Dorfsheriff". Dort versah die örtliche Vertretung der staatlichen Gewalt ihren Dienst zwischen blühenden Wiesen, muhenden Kühen und Mofas mit abgesägtem Krümmer.

Der klassische Dorfsheriff war ein Mann mittleren bis fortgeschrittenen Alters, der zusammen mit den ebenfalls ausgestorbenen Spezies "Herr Bürgermeister", "Hochwürden" (dem Gemeindepfarrer), dem Schulmeister, dem Landarzt und dem Apotheker zu den ehrwürdigen Honoratioren des Ortes gehörte. Besagte Honoratioren hatten einen Stammtisch im Dorfkrug. Der Dorfsheriff war nebenher Trainer der Jugendfußballmannschaft, sang im gemischten Chor des Örtchens und war Vorsitzender des Schützenvereins. Vor allem war der Dorfsheriff aber eins:

Die Plage der zweirädrig motorisierten Jugend.

Wer kam mit seinem Dienstkäfer um die Ecke, wenn man gerade im Rahmen einer Testfahrt mit der frisch getunten (damals hieß das noch "frisierten") Zündapp die lange Gerade auf der "Hauptstraße" (es gab nur eine Straße, aber das war natürlich eine Hauptstraße) im Tiefflug nahm?

Wer verließ gerade in dem Moment den Supermarkt mit einer Einkaufstüte unter dem Arm, wenn nach dem 75. Tritt die betagte Kreidler Florett mit dem leer geräumten Auspuff und dem abgesägten Krümmer endlich angesprungen war?

Wer lauerte auf den bekannten Schleichwegen zur Berufsschule, wenn man gerade einen guten Freund (oder ein begehrenswertes Mädchen) auf dem Gepäckträger seiner Herkules beförderte?

Der Dorfsheriff.

In endlosen Samstagnachmittagen hatten wir unsere Zündapp-Mofas endlich von 25 auf sagenhafte 50 Km/h getrimmt, dabei alle Kunstgriffe angewendet, die einem 16jährigen Halbstarken bekannt sind. Wir hatten andere Düsen im Bing-Vergaser. Andere Kettenräder zierten in unbekümmerter Offenheit das Hinterrad, größere Ritzel fristeten ein eher verborgenes Dasein unter der Blechabdeckung des Getriebeausgangs. Die Krümmer hatten wir so knapp abgesägt, daß der kümmerliche Rest so gerade eben noch mit der Gummimuffe am Endtopf zu fixieren war, und der Schalldämpfer (Hey, Kids: Gemeint ist ein DB-Eater!) lag zuhause im Schuppen.



Das Geld, das Mama und/oder Papa nach zähen Verhandlungen für neue Reifen rausgerückt hatten, war in eine BERU Kerze mit höherem Wärmewert investiert worden, und den Zylinderkopf hat der freundliche Schlosser im Nachbarort (mit Herz für untermotorisierte Zweitakter) zwecks höherer Verdichtung schön plangeschliffen.

Doch kaum hatten der pickelige Recke sein Eisenroß technisch im Griff- dann tauchte schon wieder der Schrecken aller 50-ccm-Rocker auf: Der Dorfsheriff. Eben noch ließen wir uns bei 50 Km/h auf dem hochgebürsteten Mofa den frischen Sommerwind durch das unbehelmte Haar streichen- da sprang 150 m voraus die Tür eines grün-weißen VW Käfer auf, und der streng blickende Herr in senfgelbem Hemd (hinten aus der Hose gerutscht) winkte mit einer weiß-roten Kelle.

Oft zeichnete sich jener Herr durch erschreckende Sachkenntnis aus. Er hatte verdrängt, aber nicht vergessen, dass er dereinst auch mal jung war. Zu jener Zeit hat er seine NSU Quickly oder seine DKW Hummel mit genau denselben technischen Maßnahmen aufgebohrt wie die Folgegeneration- wir.

Also gleich der erste Blick auf den Auspuff (der fast 30 cm kürzer war als im Serientrimm). Dem jugendlichen Raser treten Schweißperlen auf die Stirn. Oha- der Mann hat heute mal richtig Zeit! Nun bückt sich der beleibte Uniformträger runter zum Kettenrad. Mit einem grün-weißen Kuli von der Polizeigewerkschaft beginnt er, die Zähne zu zählen- dem Besitzer des frisierten Gefährts platzen die ersten Eiterstippen seiner pubertären Gesichtsakne.

Nach einem flüchtigen Blick in die Papiere ("Hm-hm. Da gehört'n 17er Bing rein...") und kurzer Besichtigung der Maschine ("...und ein 19er ist drin...!") baut er sich schließlich vor dem (je nach Temperament und Chuzpe) meist leicht zittrigen, knallrot angelaufenen und schwer transpirierenden Teenager auf und hält ihm eine Standpauke, die sich gewaschen hat.

In diesem Monolog kommen die Verkommenheit der Jugend, Belästigung anderer Verkehrsteilnehmer und der übrigen Bevölkerung überhaupt, die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs und noch einige andere Punkte sehr laut und sehr ausführlich zur Sprache, gipfelnd in der Feststellung, dass es so was früher nicht gegeben hätte.

Der Gemaßregelte zeigte sich übrigens durchaus geknickt, denn obwohl mitten in der dicksten pubertären Trotz- und Rebellionsphase- Respekt hatte man vor der uniformierten Staatgewalt in jedem Fall- und "Bullen" gab es ohnehin nur im Fernsehkrimi.

Nach etwa Viertelstündiger Belehrung (so lange konnte nämlich ein durchschnittlich begabter Dorfsheriff aus dem Stegreif schimpfen- ohne einzuatmen und ohne sich auch nur einmal zu wiederholen) wurde schließlich das Strafmaß verkündet: "Heute ist Samstag. Heute Nachmittag ist Fußballtraining (morgen spielen wir ja gegen Klein-Niederstenkleckenwedel). Da biste gefälligst pünktlich auf dem Platz. Morgen das Spiel. Hmmm... nächsten Mittwoch nach der Schule meldest Du Dich bei mir auf dem Revier. Bis dahin ist alles wieder umgebaut!"

Eine Geldbuße musste natürlich auch verhängt werden, denn Strafe muß nun mal sein. Den tatsächlichen Tatbestand (Fahren ohne Fahrerlaubnis, Betreiben eines Kraftfahrzeugs ohne Allgemeine Betriebserlaubnis und ohne Zulassung, Fahren ohne Versicherung,...) konnte er nicht offiziell ahnden, ohne eine Anzeige zu schreiben- mit allen Konsequenzen. Daher ging er für die Geldstrafe einen anderen Weg: "Außerdem krieg' ich fünf Mark von Dir. Du hast keine Klingel dran."

In schwereren Fällen wurde man in solch einem Schnellverfahren auch schon mal zu Freiheitsentzug oder Zwangsarbeit verurteilt: Polizeiauto waschen und staubsaugen, den Löschzug der freiwilligen Feuerwehr waschen, den Parkplatz vor der Polizeiwache fegen. Sehr zum Spott der Mofakumpels übrigens.


In ganz harten Fällen (z. B. ein Rennen auf der Dorfstraße veranstaltet und dabei beinahe die 89jährige Mutter des Kolonialwarenhändlers über den Haufen gefahren) bekam man auch eine gescheuert. Der Polizist sprang einem in lebensverneindender Weise in den Weg oder fuhr einem hinterher, und wenn er einen hatte, dann gab es vorneweg einen Satz heiße Ohren.

Zu den Eltern des Sünders ging er allerdings nur in den schlimmsten Fällen. Dann musste man schon jemanden wirklich überfahren haben.

Heute schaut man fast ein wenig wehmütig auf diese Zeit zurück. Heute werden Anzeigen geschrieben, Verfahren angestrengt, Bußen verhängt, man braucht Anwälte und muß die Eltern mit zum Gericht schleppen. Zwischen dem Erwischtwerden und der Bestrafung vergehen manchmal Monate.

Das alles hat nichts mit "guter alter Zeit" zu tun, die Zeiten haben sich nun mal geändert und eine andere Generation von "Straftätern" und "Strafverfolgern" ist herangereift. Es ist auch keineswegs schlimm oder bedauernswert, daß Backpfeifen heute nicht mehr zum polizeiüblichen Repertoire gehören. Doch eine Erkenntnis bleibt: Die damalige "Gerichtsbarkeit" entsprach vielleicht nicht in allen Fällen den Befugnissen oder den Buchstaben des Gesetzes- eines waren sie aber auf jeden Fall:

Wirksam.
 

Zuletzt geändert am: 08.06.2013 um 22:25

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